Die Reproduktionszahlen

Während der COVID-19 Pandemie wurden in den Medien immer wieder die Reproduktionszahlen thematisiert. Wir lernen hier, was diese Zahlen bedeuten.

Die Basisreproduktionszahl R0

R0 bezeichnet die Anzahl an Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt anstecken wird, falls er nur Menschen begegnet, die nicht immun gegen die Krankheit sind. Wenn wir die Basisreproduktionszahl verwenden, um die Ausbreitung der Krankheit zu modellieren, dann erhalten wir ein Modell, das analog zu unserem exponentiellen Modell aus dem ersten Kapitel ist. Wir haben bereits gesehen, dass es den Beginn einer Pandemie gut beschreibt, bei zunehmender Verbreitung der Krankheit aber immer unrealistischer wird.

R0 im SIR-Modell

Wir können die Basisreproduktionszahl aus den Parametern des SIR-Modells berechnen. R0 ist das Produkt aus

  1. der mittleren Dauer einer Infektion und
  2. der Anzahl der Menschen, die der Infizierte pro Zeiteinheit ansteckt

Die mittlere Dauer einer Infektion ist gerade der Kehrwert aus der Anzahl der Menschen, die pro Zeiteinheit genesen, also 1/rgen. Die zweite dieser Größen ist der Parameter rinf. Insgesamt erhalten wir

\[R_0=\frac{\text{rinf}}{\text{rgen}}.\]

Aufgabe 1

Schätze die Basisreproduktionszahl von COVID-19 aus den Infektionszahlen in Deutschland. Wir nutzen dazu nur die aktiven Krankheitsfälle und betrachten lediglich die Anfangszeit, noch bevor im größeren Umfang Maßnahmen zur Infektionseindämmung (ab Mitte März) ergriffen wurden.

Vergleiche deine Schätzung mit dem Wert, den das Robert-Koch-Institut (RKI) angibt. So ermittelt das RKI für Anfang März eine Reproduktionszahl von 3 (Schätzung der aktuellen Entwicklung der SARS-CoV-2-Epidemie in Deutschland – Nowcasting. Epid Bull 2020;17:10-16).

Datumaktive Coronafälle in Deutschland
04.03.246
08.03.1022
12.032714
16.03.7188
20.03.19600
24.03.29542

(Quelle der Tabellendaten: https://www.worldometers.info/coronavirus/country/germany/)

Diese Daten wurden als Punkte A,B,C,D,E,F in das folgende Geogebramodell eingearbeitet. rinf und rgen können wieder durch Schieberegler eingestellt werden.

Zur Wahl von rgen kann man sich an der Dauer der Krankheit (genauer an dem Zeitraum, in dem ein Patient ansteckend ist) orientieren. Die Krankheitdauer wird oft mit 7 bis 10 Tagen angegeben ( Quelle: RKI). Dabei ist nicht bekannt, ob die Patienten tatsächlich bis zum letzten Tag der Krankheitsdauer ansteckend sind. Desweiteren schreibt das RKI, dass Patienten vermutlich bereits 2 Tage vor Beginn der ersten Symptome ansteckend sind, was wir für unser Modell auf die Krankheitsdauer anrechnen müssen.

R0 und Immunisierung

Die Basisreproduktionszahl kann nicht die tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit beschreiben, da wir auf lange Sicht kein exponentielles Wachstum beobachten. Sie ist dennoch nützlich für gewisse Fragen der Epidemiologie. Nehmen wir einmal an, dass es keine politischen und privaten Maßnahmen gibt, die Ausbreitung einer Epidemie oder Pandemie einzuschränken. Dann wird mit zunehmender immunisierung der Bevölkerung die tatsächliche Zahl an Personen, die ein Erkrankter infizieren wird, allmählich kleiner. Sie beträgt dann

\[R_0\frac{S(t)}{N}.\]

Wenn niemand immun ist, ist S ungefähr gleich N und der Bruch ist ungefähr 1. D.h. zu Beginn der Epidemie können wir mit R0 tatsächlich die Ausbreitungsgeschwindigkeit modellieren. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn viele Menschen krank sind, ist die Reproduktionsrate deutlich kleiner. Eine wichtige Frage lautet: Ab wann wird die Anzahl der Infektionen sinken, ohne dass Maßnahmen ergriffen werden? Das ist der Fall, wenn jeder Kranke im Durchschnitt weniger als eine Person ansteckt, also wenn

\[R_0\frac{S(t)}{N}<1 \quad\Rightarrow\quad \frac{S(t)}{N}<\frac{1}{R_0}.\]

Die Krankheitswelle endet also, sobald nur noch ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung für die Krankheit empfänglich ist. Dieser Anteil entspricht gerade dem Kehrwert von R0. Mit anderen Worten: wenn bereits ein Anteil der Bevölkerung immun ist, der

\[1-\frac1{R_0}\]

von der Gesamtbevölkerung N entspricht, dann endet die Krankheitswelle. Übrigens kann die Immunisierung auch durch Impfungen erfolgen.

Aufgabe 2

Nach dem oben beschriebenen Prinzip kann man auch berechnen, welche Impfraten wir benötigen, damit bestimmte Krankheiten sich nicht weiter ausbreiten. Für die Masern beispielsweise wird die Basisreproduktionszahl auf 12 bis 18 geschätzt (Quelle: WHO). Welche Impfquote ist mindestens nötig, um zu garantieren, dass ein erneuter Masernausbruch in Deutschland durch die starke Immunisierung der Bevölkerung (sogenannte Herdenimmunität) bereits nach kurzer Zeit von alleine zum Stillstand kommt?

Die Erstellung dieses Kursmaterials wurde durch den Europäischen Sozialfonds im Rahmen des Projekts Schulentwicklung für mathematische Modellierung in MINT-Fächern (SchuMaMoMINT) finanziell gefördert.